"Als Ärztin hätte ich nie so entschieden wie die Ministerpräsidenten“

09. Dezember 2020

Aus Zeit online

Die SPD-Gesundheitspolitikerin Sabine Dittmar nimmt freiwillig Corona-Abstriche. Menschlich und politisch kann sie die Weihnachts-Lockerungen verstehen. Als Ärztin nicht. Interview: Ferdinand Otto.

Es mag überraschend klingen: In Sachen Gesundheitspolitik spricht nicht Karl Lauterbach für die SPD, obwohl der seit Beginn der Pandemie zum Inventar der Talkshows gehört. Sabine Dittmar, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion, hat lange als Hausärztin gearbeitet. Sie bekämpft die Pandemie nicht nur aus dem Bundestag heraus, sondern als Freiwillige vor Ort.

  • ZEIT ONLINE: Als Sie Anfang des Jahres die Nachrichten aus China gelesen haben und dann die ersten Fälle in Bayern auftraten – haben Sie da geahnt, was auf uns zukommt?

Sabine Dittmar: Das Ausmaß war mir sicher nicht bewusst. Man hat das Virus damals anders eingeschätzt. Ich kann mich noch an die ersten Plenarreden zu dem Thema erinnern. Da hat man noch von "grippeähnlichen Symptomen" gesprochen. Aber, dass es so viele so aggressive Krankheitsverläufe geben kann, das hat man damals unterschätzt. Wir haben in diesen neun Monaten ganz viel über das Virus gelernt.

  • ZEIT ONLINE: Sie haben Anfang des Jahres ihr Abgeordnetenbüro eingetauscht gegen die Arbeit in einer Abstrichstation. Wie kam es dazu?

Dittmar: Das war für mich eine Selbstverständlichkeit. Im März kam ja der Aufruf an medizinisches Personal, etwa an Medizinstudenten, Ärzte oder Pfleger im Ruhestand, sich freiwillig zu melden. Mein Mann und ich haben uns also beim Gesundheitsamt gemeldet. Die waren sehr dankbar für die Unterstützung. Und seitdem übernehme ich regelmäßig Dienste, wenn nicht gerade Plenarwoche im Bundestag ist. Auch diese Woche hatte ich wieder zwei Schichten im Testzentrum.

  • ZEIT ONLINE: Das klingt nach einer enormen Mehrbelastung.

Dittmar: Ehrlich gesagt: Das macht Spaß. Ich arbeite gerne im Testzentrum. Für mich ist das wie Luftholen: vom Schreibtisch wegzukommen, nicht nur Verordnungen und Gesetze zu verabschieden, um damit die Pandemie in den Griff zu kriegen, sondern aktiv vorn dabei an der Front gegen das Virus zu kämpfen. Außerdem habe ich dadurch ganz unmittelbar Kontakt zu den Mitarbeitern im Gesundheitsamt und bekomme die Rückkopplung zur Arbeit der Politik. Wichtig ist mir auch der Kontakt mit den zu Testenden. Die Menschen sind unglaublich dankbar, dass es diese Einrichtung gibt. Ich möchte das nicht missen.

"Das Virus lebt davon, dass Menschen zusammenkommen"

  • ZEIT ONLINE: Wie genau läuft die Arbeit im Testzentrum bei Ihnen ab?

Dittmar: Das ist ein Drive-Through-Station, das heißt, die Menschen fahren mit dem Auto bei uns auf den Bauhof des Landkreises. Da hat man für uns wegen der Kälte inzwischen einen Container aufgestellt. Ich stehe da in voller Schutzausrüstung, nehme schnell die Personalien auf, ein Abstrich, ab damit ins Labor. Dann ist das nächste Auto dran. Aktuell sind wir gut ausgelastet. Eine Schicht dauert zwischen zweieinhalb und drei Stunden. Allein am Donnerstag habe ich rund 170 Abstriche gemacht. In letzter Zeit kommen wegen Ausbrüchen in Kitas und Schulen viel mehr Kinder als noch vor wenigen Wochen.

  • ZEIT ONLINE: Was haben Sie in der Zeit über das deutsche Gesundheitssystem gelernt?

Dittmar: Ich kenne das Gesundheitssystem ja schon aus meiner Zeit als niedergelassene Ärztin. Insgesamt sind wir gut aufgestellt. Durch die Pandemie zeigt sich aber deutlich: Der öffentliche Gesundheitsdienst hat in der Vergangenheit ein Schattendasein geführt. Und das ist nicht gerechtfertigt. Der muss zu einer dritten Säule neben der ambulanten und stationären Behandlung aufgewertet werden. Früher wollten ja wenig junge Medizinerinnen und Mediziner zum Gesundheitsdienst, nicht nur, weil dort schlechter gezahlt wurde. Es fehlte schlicht die Wertschätzung, weil man da nicht operiert oder aufwändige Diagnostik und Therapie betreibt.

  • ZEIT ONLINE: Sie bekämpfen die Pandemie als Politikerin und als Medizinerin – zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen.

Dittmar: Als Ärztin hätte ich nie so entschieden wie die Ministerpräsidenten. Der Sachverhalt ist ja relativ klar. Das Virus lebt davon, dass Menschen zusammenkommen und es vom einen auf den anderen überspringen kann. Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit den Ergebnissen des Teil-Lockdowns. Und die Lockerungen über die Weihnachtstage und vor allem Silvester machen mir große Sorgen. Aber ich bin ja auch Mensch und Politikerin und weiß, dass es noch andere Parameter gibt. Außerdem kann ich auch den Wunsch der Bürger nachvollziehen, an Weihnachten zusammenzukommen. Ich habe selbst Familie in München, ich würde mich freuen, sie zu sehen. Andererseits bereitet es mir Bauchschmerzen.

  • ZEIT ONLINE: Wie hätte die Medizinerin regiert?

Dittmar: Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, einfach für vier Wochen alles herunterzufahren. Dann hätten wir jetzt bessere Zahlen und könnten entspannter die nächsten Wochen planen. In den europäischen Ländern, die einen harten Schnitt gemacht haben, zeigen die Zahlen: Es hat sich gelohnt. Aber im Nachhinein kann man das leicht sagen. Ich verstehe, warum man Schulen und die Wirtschaft diesmal so lange offen lassen will. Und ich hätte ehrlich auch erwartet, dass wir Ende November ein Abflachen der Infektionskurve sehen.

  • ZEIT ONLINE: Die Bundeskanzlerin und einige Länderchefs drängen zu Verschärfungen, auch die Leopoldina schlägt neue Corona-Regeln vor: Von Ende Dezember bis 10. Januar soll das öffentliche Leben weitgehend ruhen. Ist das unvermeidlich?

Dittmar: Aus medizinischer Sicht ist ein harter Lockdown das einzig Vernünftige. Wir müssen jetzt entschlossen handeln, um das diffuse und dynamische Infektionsgeschehen in den Griff zu kriegen.

  • ZEIT ONLINE: Aber neue, schärfere Regeln alle paar Wochen, das verwirrt ja auch.

Dittmar: Stimmt, aber der Verlauf der Virusinfektion ist eben dynamisch. Und darauf muss die Politik reagieren. Außerdem erlaubt das Infektionsschutzgesetz nicht, dass wir jetzt einfach Regeln für ein halbes Jahr beschließen. Ich wüsste leider auch nicht, wie man es besser machen könnte.

  • ZEIT ONLINE: Nervt es Sie, dass bei den Stichworten Gesundheit und SPD alle gleich an Karl Lauterbach denken und weniger an Sie?

Dittmar: Karl Lauterbach bringt natürlich durch seinen Schwerpunkt als Epidemiologe noch mal neue Aspekte in die Debatte ein. Er formuliert sehr klar und behält oft recht. Ich persönlich wäge vielleicht häufiger ab, das ist mehr meine Art.

Das Interview führte Ferdinand Otto für Zeit online

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