Gruppennützige Studien an Nicht-Einwilligungsfähigen

24. Oktober 2016

Seit vielen Monaten steht der Entwurf des Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (4. AMG-Novelle) auf der gesundheitspolitischen Tagesordnung.

Hier finden Sie mein Zwischenfazit zum download (PDF, 330 kB)

Anhoerung 2016 10 19 Video der Expertenanhörung

in der Mediathek des Deutschen Bundestages

Dieses Gesetz beinhaltet eine Fülle von Aspekten, in der öffentlichen Debatte wird die AMG-Novelle allerdings reduziert auf die Frage, in welchem Rahmen gruppennützige klinischen Studien bei Nicht-Einwilligungsfähigen künftig zulässig sein sollen oder nicht.

Dabei wird immer wieder der Vorwurf laut, dass das Parlament plant, die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen in aller Eile zu ermöglichen. Allein mit Blick auf die relevanten Drucksachen der EU-Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und den Werdegang des Gesetzentwurfs der 4. AMG-Novelle zeigt sich, dass diese Kritik jeglicher Grundlage entbehrt: Die EU-Verordnung datiert auf April 2014, der besagte Gesetzentwurf wurde nach einer Verbändeanhörung und der Kabinettsbefassung Anfang April 2016 vorgelegt. Zudem gab es am 9. Mai 2016 eine öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss im Deutschen Bundestag, bei der auch über das Für und Wider von klinischen Prüfungen diskutiert wurde.

Diese vermeintliche „Eil-Novelle“ soll schließlich nach der Sommerpause - nach einer erneuten Plenardebatte mit namentlicher Abstimmung - abgeschlossen werden. Ich denke, dass die Chronologie für sich spricht und Verschwörungstheorien unangebracht sind.

Mit Blick auf die teils heftigen Vorwürfe ist es mir wichtig, noch einmal folgendes in aller Deutlichkeit klarzustellen: Die Durchführung gruppennütziger klinischer Studien mit geistig behinderten Kindern und mit Erwachsenen, die bereits als Kind von einer geistigen Behinderung betroffen waren und somit niemals einwilligungsfähig waren, wird in Deutschland weiterhin vollständig verboten bleiben. Eine Öffnung für diese Patientengruppe war und ist zu keinem Zeitpunkt im Gespräch gewesen!

Der von Minister Gröhe vorgelegt Gesetzentwurf soll künftig aber gruppennützige klinische Studien bei nicht Einwilligungsfähigen erlauben, wenn diese bereits im „einwilligungsfähigen Zustand“ ihre Bereitschaft zur Studienteilnahme in einer Patientenverfügung dokumentiert haben. Zu diesem Gesetzentwurf liegen mittlerweile drei Änderungsanträge vor. Der Gruppenantrag von Ulla Schmidt und anderen soll die Durchführung von gruppennützigen Studien an nicht einwilligungsfähigen Personen nur für den Fall erlauben, dass mit einem direkten Nutzen für die betroffene Person zu rechnen ist, der Status quo soll also beibehalten werden.

Der zweite Vorschlag von Karl Lauterbach und Großteilen der Unionsfraktion sieht neben einer schriftlichen Einwilligungserklärung unabhängig von der Patientenverfügung eine verpflichtende ärztliche Aufklärung vor. Im derzeit dritten Änderungsantrag von Hilde Mattheis und mir, der ebenfalls eine schriftliche Willensbekundung unabhängig von der Patientenverfügung beinhaltet, wird das Recht auf eine ärztliche Aufklärung postuliert, allerdings ohne diese zwingend vorzuschreiben. Im Mittelpunkt der beiden letztgenannten Änderungsanträge steht das Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen.

Es geht also darum, ob ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte frei und eigenverantwortlich darüber entscheiden darf, zu einem späteren Zeitpunkt evtl. als Proband an einer gruppennützigen klinischen Prüfung teilzunehmen, die vielleicht nicht mir direkt nutzt, aber der speziellen Patientengruppe, der ich angehöre. In der „Deklaration von Helsinki“ ist das Verbot von fremd- und gruppennütziger Forschung verankert. Dort heißt es allerdings auch, dass Gruppen, die in der medizinischen Forschung unterrepräsentiert sind, einen angemessenen Zugang zur Teilnahme an Forschung erhalten sollten und dass medizinische Forschung mit einer vulnerablen Gruppe nur gerechtfertigt ist, wenn das Forschungsvorhaben auf die gesundheitlichen Bedürfnisse oder Prioritäten dieser Gruppe reagiert und das Forschungsvorhaben nicht an einer nicht-vulnerablen Gruppe durchgeführt werden kann.“ (Deklaration von Helsinki, Abs. 13 und 20.)

Genau diese beiden Aspekte sind aus meiner Sicht die Knackpunkte in der Debatte, ob klinische Studien an nicht einwilligungsfähigen Probanden auch in Deutschland unter sehr strengen Vorgaben ermöglicht werden sollten. Denn gerade im Bereich der Demenzforschung stehen wir vor einer großen Herausforderung. Es gibt aktuell ein einziges Medikament (Memantine®), das in Deutschland zur Behandlung der schweren Demenz zugelassen ist. Die klinischen Studien wurden jedoch in Litauen und der USA durchgeführt. Die deutschen Zulassungsbehörden mussten daher die im Ausland gewonnen Daten für die Bewertung zu Grund legen. Würden die deutschen Standards überall gelten, gäbe es heute dieses Medikament nicht.

Wir sind somit Nutznießer von Studien, die im Ausland unter teils geringeren Anforderungen durchgeführt wurden, eben solche Studien, die wir hier in Deutschland mit Verweis auf das Schutzrecht des Individuums unterbinden. Ich sehe hier ein erhebliches ethisch-moralisches Dilemma und eine Doppelmoral, welches gerade die strikten Gegner von gruppennützigen Studien nochmals kritisch hinterfragen sollten. Bislang sind alle anderen auf den Markt befindlichen Medikamente zur Behandlung der Demenz nur bei leichter bis mittelgradiger Demenz zugelassen. Ich begebe mich als behandelnder Arzt in eine Grauzone, wenn ich meinen Patienten, der zwischenzeitlich eine schwere Demenz entwickelt hat, weiterbehandle.

Es liegen keine gesicherten Erkenntnisse über Dosis, Nebenwirkung, Pharmakokinetik, etc. vor. Von Demenzforschern wird eindrücklich geschildert, dass der Stoffwechsel im Gehirn eines schwer dementiell Erkrankten sich deutlich von einer leichten/mittleren Demenz unterscheidet. Um bei bereits vorhandenen und noch in Entwicklung befindlichen Medikamenten zu gesicherten Erkenntnissen zu kommen, sind klinische Studien auch an schwer dementiell Erkrankten notwendig - auch wenn damit möglicherweise kein direkter individueller Nutzen für den Patienten, sondern nur für die Gruppe der Demenzerkrankten, verbunden ist. Davon bin ich als Medizinerin überzeugt.

Kritisch zu hinterfragen ist, warum Pharmaunternehmen die Notwendigkeit von derartigen Prüfungen in Deutschland bestreiten bzw. darauf verweisen, dass Studien auch doppelblind placebokontrollierte - so konzipiert seien, dass es immer einen individuellen Nutzen gäbe. Dies ist für mich schwer nachvollziehbar, es sei denn, man akzeptiert das Argument, dass ein Individualnutzen allein durch die intensivere medizinische Betreuung während einer Studie gegeben ist.

Wie bereits erwähnt, geht es nun darum, die EU-Verordnung in nationale Gesetzgebung zu überführen. Im Bereich der Klinischen Studien sind nationale Abweichungen möglich. Mit der moderaten Regelung in der 4. AMG-Novelle, die deutlich restriktiver ist als die EU-Verordnung, öffnen wir keineswegs Tür und Tor für ausufernde Studien an vulnerablen Personengruppen, sondern setzen enge Grenzen für notwendige Forschung. Zudem ist für derartige Studienansätze immer eine Genehmigung notwendig durch die zuständige Bundesbehörde oder die Ethikkommission, die sich übrigens mehrheitlich für eine solche Öffnung ausgesprochen hat. Mit der dreifachen Hürde von Patienteneinwilligung samt Zustimmung des Betreuers und der Ethikkommissionen/Bundesbehörde hätten wir ein extrem hohes Schutzniveau für klinische Studien.

Die Ethikkommission kontrolliert sehr genau, ob eine Studie nicht auch mit Einwilligungsfähigen durchgeführt werden kann. Klinische Prüfungen dürfen zudem nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung für den Probanden mit sich bringen. (z.B. Speichelproben oder Blutentnahmen, siehe EU-Verordnung). Liegt ein positives Votum der Ethikkommission vor, muss der oder die rechtliche BetreuerIn in der dann aktuellen Lebenssituation feststellen, ob meine Situation und meine Einstellung sich mit dem vorab schriftlich erklärten Einverständnis weiterhin decken.

Diese moderate Öffnung wird auch durch zahlreiche Fachgesellschaften wie das Cochrane Institut, das Netzwerk der Koordinierungszentren für Klinische Studien, der Medizinische Fakultätentag, der Verband der Universitätskliniken und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin unterstützt.

Als mündige Bürgerin sehe ich auch keinen sachlichen Grund dafür, einem einwilligungsfähigen Erwachsenen diese Entscheidung über seinen eigenen Körper zu versagen. In anderen Bereichen wie z.B. der Organspende oder den Abbruch von Behandlungen wird dieses Selbstbestimmungsrecht zu Recht geachtet. Nur wenn ein Patient selbst schriftlich sein Einverständnis erklärt hat, soll er künftig potentiell für gruppennützige klinische Studien in Frage kommen.

Eine verpflichtende ärztliche Aufklärung lehne ich jedoch ab, denn die ärztliche Aufklärung kann zur Zeit der Einwilligung nur sehr allgemein und theoretisch-abstrakt sein. Die notwendigen Informationen sollten über fachlich fundierte und standardisierte Materialien zur Verfügung gestellt werden, wie dies z.B. auch bei der Organspende der Fall ist. Wenn weiterer Gesprächs- und Beratungsbedarf besteht, hat selbstverständlich jeder das Recht sich ärztlich weiter informieren zu lassen. Es muss aber möglich sein, wie übrigens vor jeder anderen Entscheidung über eine ärztliche Maßnahme, auf diese Aufklärung zu verzichten (§ 630e Abs. 3 BGB).

Ich hoffe, dass die Diskussion über klinische Studien nach der parlamentarischen Sommerpause sachlich-fundiert fortgesetzt werden kann. Schließlich bleibt zu bedenken, wie wir künftig bei der Behandlung von z.B. dementiellen Erkrankungen Fortschritte erzielen wollen, wenn gruppennützige Studien an dieser Gruppe komplett ausgeschlossen sind.

Teilen