Morgen entscheidet der Bundestag über zwei konkurrierende Anträge zur Organspende. Als Mitinitiatorin des Antrages der doppelten Widerspruchslösung und Ärztin bin ich der festen Überzeugung, dass allein die Widerspruchslösung einen echten Wandel bei der Organspende bewirken kann. Ich werde morgen allerdings nicht dazu reden, sondern überlasse meine Redezeit einem Kollegen, der zuerst die Stärkung der Entscheidungslösung favorisiert hat, sich nun aber für die Widerspruchslösung entschieden hat und das auch gut begründen wird.
Meinen Redebeitrag gebe ich daher gerne zu Protokoll.
Zum herunterladen finden Sie ihn bereits jetzt unter Plenarrede zur Organspende (PDF, 163 kB)
Oder hier direkt zum Nachlesen:
Plenarrede 2./3. Lesung Organspende Top 7, Sabine Dittmar, 16.01.2020 (zu Protokoll)
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
10.000 schwerstkranke Patientinnen und Patienten auf der Warteliste, über 60.000 Dialysepatienten und zigtausende Angehörige richten heute ihre Augen auf uns. Sie erwarten heute, dass endlich der längst überfällige Paradigmenwechsel bei der Organspende vollzogen wird und wir die Widerspruchslösung einführen.
Wir alle müssen uns der Tatsache stellen, dass die bisherige Regelung und die umfangreichen Aufklärungsund Informationskampagnen offenkundig ohne messbaren Erfolg verpufft sind. Und auch wenn wir mit dem Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GSZO) die Rahmenbedingungen in unseren Krankenhäusern verbessert haben und dadurch schon im ersten Jahr erfreulicherweise mehr potentielle Spender als solche identifiziert wurden, so ist keine Verbesserung bei den tatsächlichen Spenderzahlen festzustellen.
Wir brauchen daher einen wirklichen Dreiklang:
Ich werbe als Ärztin aus vollster Überzeugung für die doppelte Widerspruchslösung. Wie gesagt, 10.000 Wartelistenpatienten, 60.000 Dialysepatienten, exorbitant lange Wartezeiten für ein lebensrettendes Organ, täglich 3-4 Menschen, die versterben, weil sie vergebens auf ein Spenderorgan warten, dies ist für mich genügend Legitimation, um von jedem Einzelnen von uns eine Entscheidung für oder gegen die Organspende abzufordern.
Und genau das wollten ja auch die Initiatoren des Baerbock-Vorschlags ursprünglich - nur ist davon im vorgelegten Gesetzentwurf nichts mehr übriggeblieben. Der Status Quo wird beibehalten. Man hofft, dass die Bürgerämter ihrer seit 2012 bestehenden Verpflichtung zur Abgabe von Informationsmaterial zur Organspende dann endlich nachkommen. Neu ist, dass die Bürgerämter auf die Möglichkeit des Registereintrags hinweisen sollen und dass man dies auch im Amt erledigen kann.
Ich weiß nicht, woher Sie ihren Optimismus nehmen, dass dies zu einer spürbaren Veränderung der jetzigen Situation führt. Glauben Sie wirklich, dass eine Infobroschüre mehr tatsächlich einen Unterschied macht? Bei der Widerspruchlösung hingegen wird jede Bürgerin und jeder Bürger aktiv gefordert, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob man nach seinem eigenen Tod neues Leben und neue Hoffnung schenken will.
Die Einführung der Widerspruchslösung wird durch eine umfangreiche multimediale Informationskampagne und einer dreimaligen personalisierten Aufforderung zur Entscheidung begleitet. Damit wird sichergestellt, dass jeder Kenntnis über die Widerspruchslösung und die Rechtsfolge einer Nichtäußerung hat.
Es besteht die Möglichkeit, im Register ja, nein, nur bestimmte Organe oder Übertragung an einen Angehörigen zu dokumentieren. Klar ist aber: Wenn ich gar keine Entscheidung dokumentiere, dann geht der Staat davon aus, dass ich als Organspender zur Verfügung stehe. Und wenn laut Umfrage 84 % der Deutschen prinzipiell zur Organspende bereit sind, dann ist die Einführung der Widerspruchslösung aus meiner Sicht auch folgerichtig.
Damit befinden wir uns übrigens in guter Gesellschaft: in 22 europäischen Ländern gilt die Widerspruchslösung - im Übrigen auch in den Euro-Transplant-Ländern. Jahr für Jahr erhalten wir weitaus mehr Organe über EuroTransplant als von uns zur Verfügung gestellt werden.
Wenn Sie ethisch-moralische Bedenken gegen die Widerspruchslösung geltend machen wollen, dann müssen Sie das auch bitte stringent machen! Wer die Einführung der Widerspruchslösung ablehnt, der müsste folgerichtig auch ablehnen, dass wir über Euro-Transplant Organe aus Ländern mit Widerspruchslösung erhalten. Erklären Sie das bitte einmal den Betroffenen, die hier auf ein Spenderorgan warten!
Für mich ist die Widerspruchslösung auch kein Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht. Im Gegenteil: Sie ist gelebte Selbstbestimmung. Ich bestimme zu Lebzeiten selbst, was bei einem Hirntot mit meinen Organen geschieht. Ich spende sie oder ich spende sie nicht.
Und ich bin schon ziemlich irritiert, wenn ich von Initiatoren der Entscheidungslösung die Kritik lesen muss, dass die Angehörigen dann nicht mehr entscheiden können. Ja, das ist richtig, das sollen sie aber auch gar nicht, denn wir reden hier von SELBSTBESTIMMUNG.
Die Angehörigen werden nur befragt, ob ihnen ein der Organentnahme entgegenstehender Wille des Verstorbenen bekannt ist. Sie müssen in dieser emotional belastenden Situation nicht mehr selbst entscheiden, sondern werden nur als Zeuge der Entscheidung des Verstorbenen befragt. Ganz im Sinne der Selbstbestimmung!
Wenn die Widerspruchslösung ein Grundrecht tangiert, dann das Recht auf Nichtbefassung. Aber ich sage in aller Klarheit: Bei der Abwägung hat für mich angesichts der dramatischen Situation auf der Warteliste das Recht auf Leben einen wesentlich höheren Stellenwert als das Recht, sich nicht mit der Organspende befassen zu wollen.
Denken Sie bei der heutigen Abstimmung daran, dass auch Sie oder einer Ihrer Lieben jederzeit in die Situation kommen kann, dass man selbst auf eine Organspende angewiesen ist.
Für den kleinen René aus meinem Wahlkreis, von dessen Schicksal ich in der 1. Lesung berichtet habe, kommt leider jede Gesetzesänderung zu spät. Es gibt aber 10.000 weitere Patientinnen und Patienten, die jeden Tag aufs Neue hoffen und bangen und die sich fragen, ob die Zeit noch reicht, bis der lang ersehnte Anruf kommt, dass ein passendes Spenderorgan zur Verfügung steht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie im Namen der betroffenen Patientinnen und Patienten um Ihre Zustimmung zur Widerspruchslösung.
Bitte stimmen Sie für die Einführung der Widerspruchsregelung!
Herzlichen Dank!