Sabine Dittmar (SPD) über Mutanten: "Ich bin sehr beunruhigt"

05. März 2021

Sabine Dittmar ist SPD-Bundestagsabgeordnete des Landkreises Bad Kissingen und als praktische Ärztin, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Ausschusses für Gesundheit eine Expertin im Thema Gesundheit. Mit der Redaktion hat sie über die Corona-Lage, Schnelltesten und Impfen gesprochen.

Frau Dittmar, neben der parlamentarischen Arbeit in Berlin nehmen Sie in den Wochen, in denen Sie im Wahlkreis und nicht in Berlin sind, an der Corona-Teststrecke des Landkreises Bad Kissingen Abstriche ab. Für eine Politikerin nicht alltäglich!

  • Ich mache das schon seit Beginn der Pandemie, meist zweimal in der Woche, wenn ich im Wahlkreis bin. Als es im Frühjahr vergangenen Jahres losging, wurde jede helfende Hand benötigt. Für mich als Fachkraft ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ich dem Landratsamt helfe.

Sie sind ja Ärztin und Politikerin. Was sagt zum Thema Lockdown die Ärztin zu Ihnen, was die Politikerin?

  • Die spricht nicht mit gespaltener Zunge. Ich bin sehr beunruhigt, was die aktuelle Lage angeht. Der Lockdown hat die Zahlen gut heruntergedrückt. Dann hatten wir ein Plateau und seit ein paar Tagen gehen die Zahlen wieder leicht aber stetig nach oben. Das hängt mit den Mutanten zusammen. Deren Anteil verdoppelt sich von Woche zu Woche. Wir haben inzwischen einen Anteil von 46 Prozent und demnächst wird die Mutation das Infektionsgeschehen bestimmen.

Was ist daran das Problem?

  • Dass die Mutanten eine höhere Infektiosität haben, weil Infizierte länger ansteckend sind. Deswegen bin ich auch so beunruhigt wegen der Schul- und Kitaöffnungen. Aus den Erfahrungen in England hat man gesehen, dass die Mutante sich auch gut bei Kindern ausbreitet und dort zu Krankheitsverläufen führt. Ich weiß: Wir haben alle die Schnauze voll vom Lockdown. Die Nerven liegen blank. Ich weiß gar nicht wie viele Videokonferenzen ich jeden Tag habe. Dieses nonstop auf den Bildschirm Starren, das macht mich wahnsinnig. Ich will endlich einmal wieder eine ganz normale Veranstaltung. Aber das ist ja jammern auf hohem Niveau. Ich stelle mir da eine Familie im Home-Schooling und Home-Office auf 50 oder 60 Quadratmeter vor... Ich kann verstehen, dass alle an der Obergrenze ihrer Belastbarkeit sind. Ja, die Politik will und muss eine Perspektive geben - aber dabei darf man die Vorsicht nicht aus dem Blick lassen.

Wie sehen Sie es mit Lockerungen?

  • Es existieren gute Hygienekonzepte und mit den Tests, die dann zur Verfügung stehen, kann man sicherlich leichter Öffnungsperspektiven in Aussicht stellen. Für mich ist jetzt wichtig, die Impfquote hochzubringen.

In diesen Tagen werden Antigen-Schnelltests für Laien langsam zugelassen. Warum hat das so lange gedauert?

  • Es gibt klare Rechtsvorschriften für die Zulassung von Tests zur Eigenanwendung. Wenn wir wollen, dass Laien sich daran versuchen, müssen die Ergebnisse auf jeden Fall sicher sein. Die Handhabung sollte nicht zu kompliziert sein. Wenn nicht genügend Testmaterial am Stäbchen hängt, ist das Ergebnis nämlich nicht zuverlässig. Die Ansprüche an Sicherheit und Leistungsfähigkeit sind in Deutschland hoch.

Wie teuer sind die Tests?

  • Zwischen zwei und neun Euro. Wenn die Tests zu teuer für manche Bevölkerungsschichten sind, müssen wir Politiker überlegen, wie wir diese Menschen unterstützen können.

Sind Schnelltests die Grundlage für weitere Lockerungen und Öffnungen zum Beispiel im Bereich Schule?

  • Ich bin sehr skeptisch, was Schulöffnungen zum jetzigen Zeitpunkt angeht. Wenn man schon öffnet, dann müssen die Schnelltests dort eingesetzt werden. Wenn der Test am Morgen negativ ist, kann das Kind in die Schule oder die Kita. Aber: Das Ergebnis ist eine Momentaufnahme. Man sollte sich trotzdem bemühen, Infektionen zu verhindern. Da vermisse ich vom Gesundheitsministerium auch noch eine groß angelegte Aufklärungskampagne. Schnelltests können eine trügerische Sicherheit vermitteln. Weit wichtiger ist es, so schnell wie es nur geht, möglichst viele Menschen zu impfen.

Einige Politiker und Geistliche sind ja da vorgesprescht und haben sich ihre Impfung gesichert. Sind Sie selbst eigentlich schon geimpft?

  • Nein. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich einen Zweifel an der Impfung hätte, sondern dass ich - Gott sei Dank - noch nicht so alt und auch eine gesunde Person bin. Ich bin einfach in der Reihenfolge noch nicht dran. Ich werde mich aber auf jeden Fall impfen lassen, wenn ich an der Reihe bin! Egal mit welchem der bis dahin zugelassenen Impfstoffe.

Viele Menschen wollen sich nicht mit dem AstraZeneca-Serum impfen lassen. Verstehen Sie das?

  • Nein, gar nicht. Es gibt keinen Grund, diesen sehr guten Impfstoff zurückzuweisen. In dem Parameter, der für uns wichtig ist - dem Vermeiden von schweren und tödlichen Krankheitsverläufen - spielt er in der absolut gleichen Liga, wie die mRNA-Impfstoffe, die derzeit auf dem Markt sind. Untermauert ist das durch eine Studie aus Schottland. Da hat man gesehen, dass die Krankenhauseinweisungen bei mit AstraZeneca Geimpften um 94 Prozent zurückgegangen sind. AstraZeneca hat in dieser Studie sogar Biontech geschlagen, der Impfstoff lag bei 89 Prozent. Was aber kein Negativum ist. Das sind auch hervorragende Leistungsdaten.

Warum hat er dann so einen Ruf?

  • Diese Prozentzahlen zur Wirksamkeit sind überhaupt nicht vergleichbar. Dass das immer gemacht wird, macht mich echt wahnsinnig. Und selbst wenn es so wäre, dass er nur 70 Prozent wirksam wäre, dann muss ich schon einmal ernsthaft fragen: Wie kann da eine medizinische Fachkraft sagen: Ne, das will ich nicht, ich warte bis zum Sommer und bleibe die ganze Zeit Null geschützt? Und habe hier die Chance einen 70prozentigen Schutz zu kriegen, wissentlich, dass bei der Grippe grundsätzlich die Wirksamkeit bei 60 Prozent liegt?

Sie reden sich ja gerade total in Rage.

  • Das geht mir einfach auch fachlich nicht in den Kopf, so ein Agieren.

Was ist denn mit denen, die den Impfstoff nicht wollen und deswegen nicht kommen? Müssen die sich dann hintenanstellen?

  • Wenn in der Priorisierungsgruppe 1 kein Bedarf mehr ist, dann wird er den Personen der Gruppe 2 angeboten. Wenn jemand aus der ersten Gruppe dann doch wieder will, dann muss er sich eben noch einmal anmelden. Wobei ich ja finde, es ist echt unverschämt, sich anzumelden, einen Termin anzunehmen und dann nicht zu erscheinen. Das legt unsere Impfzentren lahm. Aus Bad Kissingen ist mir so etwas zum Glück aber noch nicht zu Ohren gekommen.

Was denken Sie, werden Impfwillige bis zum Herbst alle geimpft sein?

  • Mit Blick auf die Lieferungen, die in den kommenden Wochen und Monaten zu uns kommen sollen, bin ich sehr zuversichtlich, dass uns das bis zum Sommer gelingt. Wir erwarten bis Ende März knapp 18 Millionen Impfdosen von allen drei zugelassenen Herstellern. Im zweiten Quartal sind es nur von Biontech und Moderna 43,6 Millionen Dosen und von AstraZeneca noch mal 16,7 Millionen Impfstoffdosen. Das muss man dann noch durch zwei teilen, weil es ja bekanntlich eine erste und eine zweite Impfung gibt. Dann haben wir noch die Hoffnung auf Johnson and Johnson. Die Firma hat das öffentliche Zulassungsverfahren beantragt, damit können wir Mitte März rechnen. Bei Curevac läuft gerade Phase 3 der klinischen Studien, da ist im Mai mit einer Zulassung zu rechnen. Ich sage immer: Stand jetzt, es sei denn, es brennt ein Werk nieder, ist eine Impfzusage bis zum Herbst einzuhalten.

Die Impfstoffe sind also da. Aber kommen sie dann auch an den Mann und die Frau?

  • Da muss die Strategie zügig angepasst werden. Wir haben sogar jetzt Impfstoff, der nicht verimpft wird. Wir hatten Ende vergangener Woche zehn Millionen Impfstoffdosen, bekommen diese Woche noch einmal Millionen dazu und sind heute bei einem Impfstand von knapp über sechs Millionen Menschen. Sie können sich selbst ausrechnen, wie viel Luft da noch nach oben ist.
    Unsere Impfzenten impfen im Schnitt 160 000 Menschen am Tag unter der Woche, am Wochenende wird es weniger. Wobei mir das unerklärlich ist: Was da ist, muss verimpft werden - auch am Wochenende. Und wenn wir dann mehr und anderen Impfstoff haben, dann müssen unbedingt die Praxen mit einbezogen werden. Die haben ein hohes Potenzial. Das Ganze wird jetzt schon vorbereitet. Geplant ist ab Mitte März in Schwerpunktpraxen zu impfen und ab April bei den Hausärzten.

Zu wenig Impfstoffe, Lockdown als einzige Lösung seitens der Regierung und Grundrechtseinschränkungen ohne zeitliche Begrenzung. Es gibt viel Kritik an der Arbeit der Regierung. Würden Sie trotzdem von einem erfolgreichen Umgang mit der Pandemie sprechen?

  • Ich behaupte, dass wir unsere Menschen sehr gut durch die Krise gebracht haben. Natürlich funktioniert das eine oder andere nicht. Wir haben es geschafft, dass unser Gesundheitssystem standgehalten hat: Wir mussten keinen in der Klinik abweisen. Es gab keine Triage. Deutschland hat auch unwahrscheinlich viel getan, um die Menschen finanziell zu unterstützen, Unsere Kurzarbeiterregelung ist einmalig in Europa. Da haben wir wirklich Millionen Arbeitsplätze gesichert. Darum beneiden uns die Menschen in anderen Ländern. Natürlich ist es auch teilweise schwierig. Es gab viel Unmut wegen der verzögerten Auszahlung der Hilfen und der komplizierten Antragsstellung. Ich wundere mich auch manchmal, was da im Altmaier-Haus los ist, dass die nicht in der Lage sind, zügig ein ordentliches System zu installieren. Aber nichtsdestotrotz sind das Leistungen, die wirklich absichern. Insgesamt würde ich sagen, haben wir unser Land bisher gut durch die Corona-Krise gebracht.

Vieles davon waren ja eigentlich Maßnahmen zur Bekämpfung der Folgen des Lockdowns. Hätte man stattdessen nicht einfach Schnelltests fördern können?

  • Die mussten erst entwickelt werden und sind erst im Oktober zugelassen worden. Ab da gab es dann auch eine Schnellteststrategie, geregelt und bezahlt mit Steuergeldern aus dem Bundeshaushalt. Anwenden und Umsetzen müssen sie aber die Länder und Einrichtungen vor Ort. In Bad Kissingen hätte jede Schule schon seit November testen können. Wenn der Freistaat ein entsprechendes Konzept aufgelegt hätte.

Warum ist das denn seitdem beispielsweise in der Schule nicht passiert?

  • Da müssen Sie den Herrn Piazolo fragen. In Schulen anderer Bundesländer wurde das gemacht, Bayern plant das jetzt. Wenn ich sage, ich mache die Schulen am 23. Februar auf, hätte man das alles aber schon längst regeln können und auch müssen. Die professionellen Schnelltests gibt es im Überfluss. Wir als Bundesgesetzgeber haben die Voraussetzungen dafür bereitgestellt. Schulen und Unternehmen hätten das anwenden können.

Wir haben jetzt Schnelltests für Laien und Professionelle, es sind mehr Menschen geimpft. Was denken Sie, können wir uns auf den Sommer freuen?

  • Tja, ich suche die Glaskugel, in die ich schauen kann, Ich hoffe natürlich, dass es ab Ostern schon leichter wird. Aber das ist alles davon abhängig, ob wir die Mutanten und damit die Kontrolle über das Infektionsgeschehen im Griff halten. Wenn nicht, brauchen Sie nur nach Portugal oder in die Slowakei zu schauen oder zurück nach England. Wir werden auch im Sommer nicht auf die AHA-Regeln verzichten können. Aber ich gehe auch davon aus, dass man sich wieder mit Freunden im Biergarten treffen kann - unter den Hygienebedingungen.
    Dieses Virus ist einfach ein teuflisches Ding und wir können dem nur begegnen, indem wir ihm nicht die Chance geben, auf den anderen überzuspringen .

Zum Schluss noch einmal etwas ganz anderes. Sie sind ja als praktische Ärztin, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Ausschusses für Gesundheit eine echte Expertin in Sachen Umgang mit Corona. Warum sieht man Sie selten in Talkshows, sondern eher Ihren Kollegen Karl Lauterbach?

  • Karl Lauterbach hat in der laufenden Legislatur keine Funktion in der Fraktion. Er ist nicht im Ausschuss, das heißt, er ist bei keiner Verordnung, keinem Gesetzgebungsprozess, bei keiner Beratung beteiligt. Vielleicht hat er dadurch einfach die entsprechende Zeit, um öffentlich im TV aufzutreten, zumal er wegen seiner wissenschaftlichen Arbeit ein gefragter Gesprächspartner ist.

Das Interview führte Ellen Mützel (erschienen in der Saalezeitung / infranken.de)

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