Stellungnahme zu den Sondierungen

17. Januar 2018

Liebe Genossinnen und Genossen, gerne hätte ich mit Euch - wie nach dem Scheitern der sog. Jamaika-Sondierungen - in einer offenen Gesprächsrunde die Ergebnisse unserer Sondierungen, die aktuelle Situation unserer Partei und die nächsten Schritte besprochen. Leider habe ich Sitzungswoche in Berlin, so dass ein persönlicher Kontakt vor unserem Sonderparteitag am 21. Januar leider nicht möglich ist. Deshalb versuche ich nun, Euch mit diesem Mitgliederbrief meine Gedanken und v.a. meine Bewertung der Sondierungsergebnisse mitzuteilen.

Tatsächlich gehe ich davon aus, dass keine Genossin und kein Genosse mit echter, ehrlicher Freude in eine erneute Große Koalition geht. Die Argumente, die gegen eine neue GroKo sprechen, gelten nach wie vor: Die politische Unterscheidbarkeit der großen Volksparteien verschwimmt in einer GroKo immer mehr, die radikalen Ränder werden gleichzeitig gestärkt. Deshalb war es auch richtig, unmittelbar nach der Wahl am 24. September, als es noch die Möglichkeiten einer sog. Jamaika-Koalition gab, einer GroKo eine Absage zu erteilen. Aber nach dem kläglichen Scheitern der Jamaika-Sondierungen ist die Situation nun leider doch eine andere.

Bundespräsident Steinmeier hatte in Folge alle demokratischen Parteien aufgefordert, miteinander die Bildung einer stabilen Regierung auszuloten. Demzufolge war es richtig, dass unser Bundes-parteitag am 7. Dezember 2017 beschlossen hat, ergebnisoffene Sondierungsgespräche mit den Unionsparteien aufzunehmen. Diese Gespräche wurden nach meiner Auffassung von unserem Verhandlungsteam sehr professionell innerhalb von fünf Tagen geführt und zum Abschluss gebracht. Das Ergebnis liegt uns nun seit letztem Freitag vor.

Ich möchte Euch nachdrücklich bitten, dieses Papier sehr gründlich zu lesen und v. a. mit den Forderungen unseres Wahlprogramms abzugleichen, bevor Ihr zu einer abschlie-ßenden Bewertung kommt.
Für mich selbst kann ich sagen, dass das Papier Licht- und Schattenseiten hat. Trotzdem kann und werde ich unseren Delegierten für den kommenden Sonderparteitag guten Gewissens die Zustimmung zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen empfehlen. In diesen Verhandlungen wird natürlich der ein oder andere Punkt nachgeschärft, konkretisiert und inhaltlich besser untermauert werden müssen. Ziel der Sondierung war es, zu klären, ob in den Hauptthemen überhaupt Kompromisse gefunden werden können. Aus diesen Sondierungsergebnissen möchte ich nun ein paar Punkte herausgreifen, die für mich besonders wichtig sind.

Ganz wichtig sind für mich die Verhandlungserfolge in den Bereichen:

Rente:

  • Beiträge und Rentenniveau von 48% werden bis 2025 (in unserem Wahlprogramm: 2030) festgeschrieben. Hierfür wird die Rentenformel geändert.

  • Solidarrente (jetzt: „Grundrente“ = 10% oberhalb des regionalen Grundsicherungsbedarfs ab 35 Jahren an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten). Gilt auch für Bestandsrentner.

  • Einbeziehung Selbständige in Rentenversicherung

  • Mindestkrankenversicherungsbeiträge für kleine Selbständige werden reduziert.

  • Massive Verbesserung der Erwerbsminderungsrente

Gesundheit und Pflege:

  • Herstellung der Parität bei den Beiträgen zur Gesetzlichen Krankenversicherung

  • Mehr Personal, Qualitätsstandards und bessere Bezahlung in der Pflege (8.000 Fachkraftstellen zusätzlich, Refinanzierung von Tarifsteigerungen)

  • Flächendeckender Tariflohn wird allgemeinverbindlich

  • Abschaffung Schulgeld für Ausbildung in Heilberufen wie Physio-, Ergotherapie und Logopädie

  • Altenpflegesofortprogramm

  • Verbindliche Personalbemessung

Bildung:

  • Gebührenfreie Kitas

  • Mehr Investitionen in Bildung

  • Aufhebung Kooperationsverbot, der Bund darf Länder in den Bereichen Schule, Bildung, Hochschulen finanziell unterstützen und wird dies milliardenschwer tun

  • Erhöhung und Ausweitung des BAföG

  • Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab der Grundschule

Europa:

  • System europäischer sozialer Mindeststandards (Europäischen Rahmen setzen)

  • Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und Kinderarmut (Mehr Mittel)

  • Steueroasen in/außerhalb EU austrocknen/ Harmonisierung Unternehmensbesteuerung (Prinzip: Land des Gewinns, ist Land der Besteuerung)

  • Gemeinsam mit Frankreich Europa weiterentwickeln (u.a. Neuer Elysee-Vertrag)

Steuern, Entlastung von Familien:

  • Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen und Familien (Schrittweise Abschmelzung Soli, Entlastung Geringverdiener bei Sozialbeiträgen)

  • Abschaffung Abgeltungsteuer

  • Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Kinderarmut

Mit weiteren Forderungen nach Steuersenkungen oder Steuererhöhungen konnte sich keine Seite gegen die andere durchsetzen.
All diese Punkte waren tatsächlich so Bestandteil unseres Wahlprogramms und spielten eine wichtige Rolle im Wahlkampf. Auch in den Bereichen Familie, Frauen, Landwirtschaft und Ernährung, Förderung des ländlichen Raums und Entlastung der Kommunen haben wir sehr gute Ergebnisse erzielt, die - aufgeführt - hier jetzt aber den Rahmen sprengen würden. Aber, wie schon gesagt, es gibt auch Schattenseiten, die nicht verschwiegen werden dürfen.

Viele von Euch sehen die Vereinbarungen zur Flüchtlings- und Migrationspolitik als Ablehnungsgrund des Sondierungspapieres an. Das ist in der Tat der auch für mich schwierigste Teil, da ich nicht glaube, dass in den vorgesehenen Aufnahmezentren die Situation entschärft oder besser organisiert werden kann.

Allerdings muss ich schon mit aller Deutlichkeit feststellen, dass das Recht auf Asyl und die Vereinbarung der Genfer Flüchtlingskonvention unangetastet bleiben. Es gibt im Sondierungspapier keine Obergrenze, es gibt lediglich die Feststellung der durchschnittlichen Zuwanderung in den letzten 20 Jahren. Zudem gibt es keine Aussage darüber, was passiert, wenn die Zahlen über diesen Durchschnitt ansteigen. Auch hier kann ich Euch nur bitten, diesen Passus nochmals sehr genau zu lesen. Kritisiert wird von vielen Genossinnen und Genossen auch die Begrenzung des Familiennachzugs auf 1.000 Personen pro Monat. Das ist in der Tat ein Kompromiss zwischen der völligen Aussetzung des Familiennachzugs und einer völligen Nichtbegrenzung. Allerdings ist die Zahl auch nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern man orientiert sich schlicht an der Leistungsfähigkeit unserer Botschaften in den zumeist betroffenen Ländern wie Türkei, Libanon, Irak oder Syrien.

Auch einige weitere Herzensanliegen konnten wir nicht durchsetzen: Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und die Einführung der Bürgerversicherung. Das ist bitter, macht aber auch die politischen Unterschiede zwischen Union und SPD deutlich sichtbar. Es ist eben nicht alles gleich zwischen den bei-den großen Volksparteien. Es gibt deutliche Unterschiede und diese werden wir, wenn es zu einer neuen Großen Koalition kommen sollte, auch weiterhin klar benennen.

Ich plädiere dafür, die Chancen einer Regierungsbeteiligung ganz nüchtern daran zu messen, ob sie für sozialdemokratische Ziele im Interesse der Bürgerinnen und Bürger einen Rückschritt darstellen oder einen Fortschritt. Und das Sondierungsergebnis ist ein Fortschritt.

Ein zweiter Punkt, der für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen spricht, ist der Blick auf die Alternative. Eine Minderheitsregierung wird es nicht geben, da die Union klar erklärt hat, dafür nicht zur Verfügung zu stehen. Also wird es bei einer Ablehnung von Koalitionsverhandlungen voraussichtlich zu Neuwahlen kommen. Der Ausgang ist ungewiss.

Für die Bürgerinnen und Bürger würde dies bedeuten, dass es weder ein gesichertes Rentenniveau, eine Grundrente, staatliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus, eine Abschaffung des Kooperationsverbotes oder eine gebührenfreie Kita geben wird. Das wissen wir aus den Jamaika-Sondierungen. Und bis zu Neuwahlen müssen wir damit rechnen, dass zum Beispiel der Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge, dessen Aufnahme wir mühsam durchsetzen konnten, von einer Mehrheit aus Union, FDP und AfD dauerhaft ausgesetzt wird.

Der dritte Punkt, der gegen Neuwahlen spricht, ist ganz simpel: Was antworten wir denn Wählerinnen und Wählern auf die Frage, warum wir die Chance nicht genutzt haben, viele unserer Themen, für die wir jetzt im Wahlkampf wieder werben, in einer Großen Koalition umzusetzen? Nur wenn wir unserem Anspruch treu bleiben, das Leben der Menschen konkret zu verbessern und unsere Möglichkeiten dazu auch zu nutzen, können wir uns glaubhaft von all denen absetzen, die sich lieber selbst reden hören, als Verbesserungen zu erreichen. Und das ist es, was die Wählerinnen und Wähler von uns erwarten.

Ich bitte Euch, nachdem Ihr Euch sorgfältig mit dem Papier auseinandergesetzt habt, zu einer wohlüberlegten Bewertung zu kommen und dabei mit einzubeziehen, welche Konsequenzen eine Ablehnung von Koalitionsverhandlungen höchstwahrscheinlich für unsere Partei, aber auch für unser Land mit sich brächten.
Ich habe nun doch eine ganze Menge geschrieben, ohne auf alle Punkte eingehen zu können. Wie gesagt, bedenkt meine Argumentation sorgfältig, diskutiert sie selbstverständlich auch kontrovers, aber bitte immer mit ausreichend Respekt vor der anderen Meinung. Das, was ich im Moment auf Facebook, Twitter und in Funk und Fernsehen erleben muss, ist, das muss ich in dieser Deutlichkeit sagen, unserer Partei und Debattenkultur weder würdig noch hilfreich für uns.

Mir ist bewusst, dass es einige Genossinnen und Genossen gibt, die grundsätzlich eine GroKo ablehnen. Diese werde ich kaum überzeugen können. Sie möchte ich aber bitten, den übrigen Genossinnen und Genossen die Möglichkeit zu geben, sich selbst, ohne Druck und v.a. ohne Vorverurteilung nach eigener Bewertung entscheiden zu können. Das können sie aber auch nicht, wenn der kommende Parteitag weitere Koalitionsverhandlungen ablehnt. Abschließend sei mir noch der Hinweis gestattet, dass uns der DGB in Bund und in Bayern und auch einige Sozialverbände wie der Vdk aufgefordert haben, in Koalitionsverhandlungen mit der Union einzutreten. Sie fan-den die veröffentlichten Ergebnisse der gescheiterten Jamaika-Sondierungen abschre-ckend und alarmierend.

Liebe Genossinnen und Genossen, solltet Ihr zu einzelnen Punkten Nachfragen und An-merkungen haben, könnt ihr mich gerne anrufen, mich über Whatsapp oder E-Mail kon-taktieren. Ich danke Euch für Euer Verständnis und verbleibe

mit solidarischen Grüßen
Eure

Sabine Dittmar

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